Im Wechsel
Es ist eine Zeit der Veränderung, der Unsicherheit, aber auch der Chancen. Die Zeit des Wechsels fordert uns auf, Vertrautes loszulassen und uns ein neues, buntes Kleid aus unseren Phantasien und Sehnsüchten zu weben.
An meinen 39. Lebensjahr erinnere ich mich gut. Unsere Kinder erlebten wir als Quelle der Freude, die Kleinen wuchsen in einem weitgehend verlässlichen Nest heran und die Großfamilie hatte sich zusammengerauft. Ich investierte all meine Energie in den Betrieb und hatte trotzdem unsere Kinder immer um mich. Ein Privileg für mich als selbstständige Gastronomin und so hatte sich beruflich alles – wenn auch unter großen Anstrengungen – wunderbar entwickelt.
Dennoch begleitete mich das Gefühl, dass dieses System fragil war, und wie ein Damoklesschwert schwebte die Frage über mir: Ist der hohe Preis, den ich zahle, gerechtfertigt?
Fragezeichen
Mit der Magersucht unserer ältesten Tochter schlug das Schwert unerbittlich zu. Der Untergrund wankte bedrohlich, eine Depression machte sich bemerkbar und in allen Lebensbereichen tauchten mit einmal Male deutliche Fragezeichen auf.
Parallel dazu entdeckte ich das erste graue Haar im Aschblond. Kontrollverlust auf allen Ebenen. Eine meiner Schwestern war damals meine Hauptklagemauer, Therapeut*innen, Psycholog*innen und spirituelle Ratgeber*innen säumten meinen Weg.
Mein Mann fühlte sich mit der geballten Frauenproblematik massiv überfordert und brachte sich erst einmal in Sicherheit. Einerseits fühlte ich mich verlassen, bald spürte ich: Den Weg gehe ich ohnehin allein. Wohin auch immer er mich führt.
Begegnungen
In dieser Zeit begann ich zu schreiben. Ich schrieb um mein Leben, wie eine Ertrinkende. Meist als Verzweiflungsakt, wenn ich nicht mehr ein noch aus wusste, dann wieder, wenn ich einen Strohhalm gefunden hatte. Ich schrieb, wenn mir Wegbegleiter*innen neue Perspektiven eröffneten, über jeden noch so winzigen Hoffnungsschimmer und natürlich auch in den Momenten, in denen ich wieder ein kleines Stück Heimat und Frieden in mir gefunden hatte.
Auf der Suche nach meinem Weg führte mich mein sorgsam über mir wachender Schutzengel zu Julia Onken, einer meiner Lieblingsautorinnen in Sachen Frausein. Ich hatte das Glück, sie bei einem Vortrag persönlich zu sprechen und scherzte, wir hätten schon viele gemeinsame Nächte zugebracht. „Und, hatten wir’s nett zusammen?“, fragte sie charmant.
Ja, wir hatten’s nett. Feuerzeichen Frau war mein Einstieg und das Beste, was mir in dieser neuen Lebensphase passieren konnte. Wunderbare Aha-Erlebnisse, Erkenntnisse und einen scharfer Blick für Zugemutetes und Übergestülptes leuchteten wieder ein gutes Stück meines Weges aus. Nein, ich war noch nicht im Klimakterium angelangt, aber alles im meinem Leben signalisierte VERÄNDERUNG.
In der Wolfsfrau von Clarissa Pinkola Estés fand ich dann den Satz, der den Beginn meines neuen Weges so gut beschreibt: „….dann streift sich die Wolfsfrau die Brut von den Beinen und macht sich auf den Weg, all’ die verlorenen Knochen zu sammeln um sie zu einem großen Ganzen zusammenzufügen…“
Nein, ich habe niemanden verlassen, aber intuitiv hat ein neuer, innerer Weg begonnen.
Der Blick wandelt sich
Der Wechsel wurde mir praktisch vorweg aufoktroyiert. Ich begann mich um die Inneneinrichtung meines Körperhauses zu kümmern, Ordnung zu machen und es mir so behaglich wie möglich einzurichten. Ich war mit meinem Äußeren soweit leidlich zufrieden, habe auch heute noch ein Faible für gute Kleidung, betrachtete mich aber nach und nach als „naturschön“ und verbrachte daher nicht mehr Zeit mit Verschönerungsaktionen aller Art als unbedingt erforderlich. Und so wandelte sich mein Selbstbild allmählich – von leidlich zu recht zufrieden.
Julia Onken bezeichnet die Entwicklung des Äußeren als den Schrebergarten, dessen intensive Pflege idealerweise in die erste Lebenshälfte passe. Wer sich in der zweiten Lebenshälfte noch immer an dem Schrebergarten festklammere und die Aufforderung, darüber hinaus zu wachsen, nicht wahrnehme, verpasse in tragischer Weise, was Leben heißt.
Der Wechsel, der dann mit Mitte vierzig einsetzte, bereitete mir durch den – aus heutiger Sicht – aufgezwungenen, vorauseilenden Gehorsam wenig Schwierigkeiten. Den Abschied vom gebärfähigen Alter empfand ich nach vier Geburten eher als Befreiung, denn als Verlust. Hitzewallungen begegnete ich mit Salbeitee und Zwiebellook. Dieses Modell der Kleiderschichten, die je nach Temperaturempfinden ab- und angelegt werden, habe ich übrigens beibehalten.
Ich weiß, dass viele Frauen massiv leiden, körperlich und psychisch, und halte daher fest: Dieser Lebensabschnitt fordert Mut und Entschlossenheit zur Veränderung. Aber er ist naturgewollt und birgt ein großartiges Geschenk.
„Dieser Lebensabschnitt fordert Mut und Entschlossenheit zur Veränderung.
Aber er ist naturgewollt und birgt ein großartiges Geschenk.“
Feuerzeichen
Julia Onken hat für die zunehmende Gesichtsbehaarung, die sich in dieser Zeit einstellt, ein kräftiges Wort gefunden: Feuerzeichen. Ich kenne sie auch, diese borstigen Stacheln, die an der immer gleichen Stelle wachsen. Sie sind das Ergebnis des steigenden männlichen Geschlechtshormons Testosteron, das unter anderem auch für Aggression verantwortlich ist.
Nun, die lateinische Wurzel des Wortes Aggression heißt soviel wie auf etwas zuschreiten, angreifen, unerschrocken und zielstrebig. Ins Geistige übertragen bedeutet dies gedanklich in etwas eindringen, etwas durchdringen. Testosteron befähigt uns also, auf der körperlichen Ebene aus unserem Dornröschenschlaf aufzuwachen, Verrenkungen zu überwinden, zu uns zu stehen, nicht mehr lieb Kind, lieb Weib zu sein und eine klare Kontur einzunehmen.
Die Zeit des Wechsels fordert uns auf, den altbekannten, vertrauten aber inzwischen zu eng gewordenen Mantel abzuwerfen und uns ein neues, buntes Kleid aus unseren Phantasien und Sehnsüchten zu weben.
Ganz und gar kein Verlust
Wechsel – das Wort beinhaltet in keiner Weise eine Bewertung, sondern bezeichnet ein Austauschverhältnis vom Ebenbürtigem, Gleichwertigem. Nichts deutet auf ein Verlustgeschäft hin, mit welchem die Wechseljahre landläufig bezeichnet werden.
Ich beobachte im Leben von Menschen zwei unterschiedliche Kurven: eine innere und eine äußere. Während die äußere, die die körperliche Kraft anzeigt, allmählich abflacht, steigt die innere stetig weiter, schwingt sich hinauf in die hellen Räume des menschlichen Bewusstseins, in die eigentliche Fülle des Daseins, um zum Zeitpunkt des Todes ins All zu gehen.
Geistige Mutterschaft
Die Zeit des Wechsels gilt allgemein als Frauenthema. Mittlerweile steht aber längst fest, dass Männer um die Lebensmitte ebenso eine Phase der persönlichen Veränderung erleben.
Die Chance, die ich für uns Frauen in dieser Phase sehe? Frauen können in die geistige Mutterschaft eintreten, ob wir die körperliche Mutterschaft erleben durften oder nicht. Die körperliche Mutterschaft ist ein biologischer Prozess, der nach der Befruchtung ohne unser Zutun geschieht. Danach fordert sie freilich unseren ganzen Einsatz.
Die geistige Mutterschaft geht auch aus einer Geburt hervor. Wir müssen sie jedoch erarbeiten. Jede für sich, in sich. Denn ich empfinde die geistige Mutterschaft als Eintritt in die Bewusstwerdung. Erst durch die die geistige Geburt, denke ich, vollzieht sich die eigentliche Menschwerdung, da wir Körper-Seele-Geistwesen sind. Geistige Mutterschaft bedeutet meines Erachtens auch, mir selbst Mutter zu sein, meine Talente zu fördern, gut und liebevoll für mich zu sorgen und mich nicht stets in den Hintergrund zu stellen und mich zu vergessen.
Fülle des Lebens
Heute fühl ich mich ein Baum
der sich ganz Frau weiß:
nicht mehr zerbrechlicher Zweig
sondern runde Kraft der Eingebung
und fest Sicherheit,
zu wissen, wo ich mich befinde.
Die Wurzeln meines Körpers
sind gesegnet von der Liebe.
Erblüht bin ich im Schaum
den Leidenschaft versprüht,
dem großzügigen Samen des Lebens
und dem Schmerz.
Ich lernte, dass Niederlagen
Wunden gleich vernarben
und dass man in den Kampf zurückkehrt,
wenn man die Zügel wieder aufnimmt.
Heute fühl’ ich mich wie ein Baum,
der sich ganz Frau weiß.
Hoch, stark, gut gelebt
und voller Reife.
– Gioconda Belli
Fühlst Du die unendliche Weite des Frauseins?
Schreibe mir, wenn du deine eigenen Gedanken mit mir teilen willst!
Herzlichst
Sissy Sonnleitner
LITERATUR
Julia Onken
– Feuerzeichen Frau
Clarissa Pinkola Estés
– Die Wolfsfrau. Die Kraft der weiblichen Urinstinkte