Morgengedanken
Der ORF hat mich eingeladen, eine Woche lang die Radiosendung Morgengedanken zu gestalten. Hier kannst du die Texte nachlesen und hören. Sie mögen dich gut in den Tag begleiten.
Morgengedanken 1
Anfang März hat ein Elementarereignis all unsere Pläne durchkreuzt: Corona. Auch meine Pläne wirbelte es durcheinander. Ursprünglich wollte ich mich nach 51 Jahren als Köchin und Unternehmerin zur Ruhe setzen und meinen Leidenschaften nachgehen. Aber so nach und nach erahnte ich die mögliche Tragweite von Corona und ich spürte: Das ist die Stunde der Frauen.
Seit 30 Jahren schreibe ich. Wenn ich ratlos und verzweifelt bin, wenn ich Erkenntnisse gewinne, schreibe ich meine Gedanken auf. Auch meine Träume.
Als die Krise kam, spürte ich, dass ich weiterschreiben musste. Dass ich meine Gedanken teilen musste, um Frauen Mut zu machen, ihre eigene Kraft wahrzunehmen und ihr Potential freizuschaufeln. Und so wurde ich mit 67 noch einmal Bloggerin. Auf liebeschafftalles.at teile ich Erkenntnisse und Erfahrungen aus einem intensiven Leben.
Die Themen, über die ich schreibe, sind die Themen, die uns alle beschäftigen, wie ich denke. Angst, Freude, Aufbruch, Urkraft, Spiritualität, aber auch die kritische Auseinandersetzung mit der Rolle der Frau in der Kirche.
Die Klammer, die all das zusammenhält, habe ich Liebe schafft alles genannt. Was ich damit meine? Ich meine die Liebe, die du in dir spürst und die du andere spüren lässt. Wenn du dich verschenken willst, weil die Quelle in dir sprudelt.
Morgengedanken 2
In unserem Hotel hing jahrzehntelang der lebensgroße Entwurf für ein Kirchenfenster: drei weinende Frauen. Nun sind sie die Patroninnen meines Blogs: die Liebende, die Wissende, die Sehende.
Die Liebende soll dir Mut machen. Wie eine Fackelträgerin geht sie dir voraus. Gerade jetzt, da sich unsere Welt so radikal verändert.
Auch wenn die Liebe nun bei vielen Menschen von der Angst vor dem Bedrohlichen und der Ungewissheit überflutet wird. Angst, hat mich das Leben gelehrt, hat nur dort ihren Platz, wo die Liebe ein Vakuum hat. Umso wichtiger scheint es mir, die Angst an der Hand zu nehmen und mit ihr ins Vertrauen und in die Liebe zu gehen.
Ich nehme die Angst ernst. Auch weil ich sie für einen wichtigen Schutz halte. Aber ich bin der Ansicht, dass wir nicht zulassen dürfen, das sie über Mut, Intelligenz und Geschicklichkeit dominiert.
„Wo ist denn im Schnee noch a Wegle zu dir?“, heißt es in einem alten Kärntner Lied. Viele Wege sind zugeschüttet, zugeweht. Aber sie sind da. Auch deine Wege zu dir. Manche werden sich überschneiden, auf manchen wirst du vielleicht ein Buschmesser brauchen, um im Frausein und in deiner Selbstliebe deinen eigenen Weg zu finden.
Morgengedanken 3
„Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst.“ Der erste Teil scheint verständlich. Der Nachsatz beschreibt aber das eigentliche Fundament der Liebe – die Selbstliebe.
Der Weg zur Selbstliebe beginnt mit der Frage „Wer bin ich?“. Sie führt dich an den Ort, an dem deine Seele sein kann. Dein Ich bin. Dein Gott als Du in dir.
Selbstliebe ist meiner Erfahrung nach der Einstieg in alle Wandlungsprozesse. Für mich bedeutet das:
- Ich übernehme die Verantwortung für mein Leben
- Mein Selbstwert ist nicht von Anerkennung von außen abhängig.
- Ich löse mich von Glaubenssätzen wie „Das kann ich nicht.“ „Ich trau’ mich nicht.“ „Ich bin nicht schön, schlank, gescheit genug…“ Also von Prägungen, die wir aus Kindheit, Schule und Jugend mitgenommen haben. Aus einer Zeit, da wir in der Bestimmung unseres Selbstwertes von anderen abhängig waren.
Selbstliebe bedeutet für mich, dass ich meine Seele für alles in mir und an mir öffne. Für die schönen und die hässlichen, die hellen und die dunklen Seiten. Für die Fülle und die Leere, die Wut, den Schmerz und den Frieden.
Wenn ich erkenne, dass all das in mir ist, kann ich auch für Menschen in meinem Umfeld größere Toleranz aufbringen. Wenn ich erkenne, dass mich die Bequemlichkeit meines Gegenübers deshalb so aufregt, weil ich selbst gerne ein etwas bequemeres Leben hätte, dann habe ich das Spiegelbild des Lebens verstanden.
Morgengedanken 4
Die Wissende – eine der drei Säulen meiner Geschichte – weist auf die Urkraft der Frau hin. Die „Wilde Frau“. Ich sehe sie als meine Instinktnatur, das andere Ich, die große Weise. Clarissa Pinkola Estés beschreibt sie in ihrem Buch „Die Wolfsfrau“ als „lebensspendende Schöpferin und hexenhafte Zerstörerin in einem“.
Für mich ist die Beschäftigung mit der Wilden Frau das Wissen um die Seele. Ohne diese Praxis fehlt uns Frauen der Zugang zu unseren inneren Sinnesorganen, zu unseren unteren Oktaven. Sie ist das Herz der Psyche und reguliert das Seelenleben auf eine ähnliche Weise wie das organische Herz den physischen Körper.
In vielen Lebensbereichen fehlt sie uns heute:
- Wenn uns das rechte Maß abhanden kommt und wir uns in einer Welt bewegen, in der nur das „schneller, höher, weiter“ zählt.
- Wenn wir das heilsame Liebesgefühl, das nur das Selbst für das Selbst empfinden kann, einem Liebhaber mit viel Aufwand und erotischem Einsatz entlocken wollen.
- Wenn wir die Unkenntnis über unsere wahre Wesensnatur hinter einer gut geschminkten Fassade und einer Staubwolke von Hyperaktivität verbergen.
Wir sind kurzatmig geworden. Es ist wohl kein Zufall, dass Covid 19 eine Lungenkrankheit ist.
Warum mir soviel an der Wissenden liegt, dieser Wilden Frau? Ich denke, ohne uns geht sie zugrunde, und ohne sie verkümmern wir mehr und mehr. Um das Leben voll auszukosten, brauchen wir die Wilde Frau in uns.
Morgengedanken 5
In dem Märchen „Die Wahrheit sagen“ erzählt Anita Johnston von einem Ritter, der ein schweres Verbrechen gegen eine Frau verübt hat. Er will herausfinden, was Frauen sich am meisten wünschen und nach langer Suche findet er die Antwort: „Was eine Frau sich am allermeisten wünscht, ist Souveränität, das Recht, sich einen ganz eigenen Weg durchs Leben zu suchen“.
Ich denke, Selbstbewusstsein ist ein wichtiges Instrument auf dem Weg zur Souveränität. Eine selbstbewusste Frau findet ihren Weg, auszudrücken, wer sie ist und was sie will. Sie lernt aktiv zu kommunizieren, ohne ihre Bedürfnisse zu vernachlässigen oder aggressiv und unsensibel auf die Bedürfnisse anderer zu reagieren.
Sie muss fähig sein, Entscheidungen zu treffen. Ja zu sagen, wenn sie will, und nein, wenn sie es nicht will. Ohne diese Wahlfreiheit läuft sie nämlich Gefahr, anderen unfair zu begegnen, mit Vorwürfen, Trauer und Wut. Weil sie das Gefühl hat, mehr zu geben als zurückzubekommen.
Eine selbstbewusste Frau ehrt ihr weibliches Sein, steht zu ihrer Macht, ihrer tiefsten Wahrheit und ihren stärksten Gefühlen. Und sie setzt ihre männlichen Energien so ein, dass diese sie in die Welt hinaus tragen. Sie demonstriert, wie machtvoll sie neben anderen stehen kann, ohne deren Macht zu schmälern.
Eine souveräne Frau ist unabhängig, offen für andere Menschen und Meinungen. Sie kann die Hände ausbreiten, weil sie mit offenem Herzen unverletzlich ist.
„Eine selbstbewusste Frau muss fähig sein, Entscheidungen zu treffen. Ja zu sagen, wenn sie will, und nein, wenn sie es nicht will.“
– Sissy Sonnleitner
Morgengedanken 6
„Ab morgen trage ich rot“ heißt ein Buch Linda Jarosch, das mich nach wie vor beeindruckt. Rot wie die Leidenschaft, die Liebe, die Lust, die Erotik, die Auferstehung, das Blut…
Für mich ist auch Pfingsten rot. Der Geist, der uns lebendig macht, der Feuer, Begeisterung, Leidenschaft in uns weckt. So verstehe ich den heiligen Geist als die weibliche Kraft Gottes. Aus diesem Verständnis kann ich dem Umgang der Kirche mit uns Frauen nicht folgen.
Denn das Rot signalisiert mir, mich selbst sichtbar zu machen, die Scham hintanzustellen. Ein Signal für Leidenschaft und Lebensfreude. Ein starkes Zeichen für jene Kräfte , die meinem Leben Farbe geben und meine Selbstachtung.
Dieses Achtung gilt auch für die Erotik. Viele Frauen lehnen ihre erotische Seite ab. Das liegt zum einen an anerzogenen Moralvorstellungen, die die eigene Erotik verdrängen. Andere wehren sich innerlich gegen kommerzielle Bilder, die weibliche Erotik mit sexueller Anziehungskraft gleichgesetzt.
Erotik empfinde ich vor allem als sinnlich-geistige Anziehung. Unsere erotische Ausstrahlung wirkt, wie ich meine, aus dem Bewusstsein heraus, gerne Frau zu sein – in unserem Auftreten, unseren Worten und unserer Kleidung.
Ich habe für mich erkannt: Auch dieses Mysterium der Weiblichkeit liegt in uns Frauen. Es will von einem anderen Menschen berührt und geweckt werden. In jeder Lebensphase lohnt es, sich dieser göttlichen Energie zu widmen.
Morgengedanken 7
Die Liebende, die Wissende, die Sehende – sie begleiten mich beim Schreiben, Denken und meinen Empfindungen. Von den ersten beiden habe ich bereits gesprochen. Die Sehende erzählt vom Mysterium der Weiblichkeit, von der schöpferischen Kraft der Erde.
Wesentliche Impulse habe ich durch Clarissa Pinkola Estés Buch „Die Wolfsfrau“ gewonnen. Sie schreibt: „Vor vielen tausenden Jahren wurde alles Weibliche geehrt und die weibliche Seite Gottes in der Gestalt der großen Göttin angebetet und verehrt. Das Weibliche galt als die kreative Lebenskraft der Erde. Die natürlich gerundete, weiche Gestalt des weiblichen Körpers wurde als schön betrachtet. Die Jahreszeiten, die Mondphasen, Ebbe und Flut, der Zyklus von Leben-Tod-Leben stellten die Antworten auf die Geheimnisse des Lebens dar.“
Zu den größten Mysterien des Frauseins zählen zweifellos die Erfahrungen, dass wir mit Wehen umgehen können. Wir können Leben empfangen, reifen lassen, gebären, schützen und behüten. Von Natur aus, aus uns heraus.
Die Welt liegt in den Wehen. Wir treten in die nächste Entwicklungsphase ein. Und ich denke, jetzt ist die Stunde der Frauen gekommen. Die Zeit braucht Frauen, die zu sich und ihrer Urkraft finden, ihrer Berufung nachgehen und die weibliche Kraft in die Welt tragen.
Ich bin beseelt von der Vorstellung, dass beim nächsten Entwicklungsschritt wir Frauen Führungsverantwortung übernehmen müssen. Für die Gesellschaft, für unseren Frieden, für unsere Herzen. Und deshalb müssen wir ernst nehmen, was Herz und Körper uns sagen.
Schreibe mir, wenn du deine eigenen Gedanken dazu mit mir teilen willst.
Herzlichst
Sissy Sonnleitner